Willendörfer (1) von Verena Dürr

Willendörfer (1) von Verena Dürr

Wepsert präsentiert euch einen Text von Verena Dürr, der fragmenthaft und witzig den synonymen Geburtsort der Großmutter und der Figurine der Venus von Willendorf, einer der ältesten bekannten Darstellungen einer Frau bzw. weiblichen Göttinnenfigur, thematisiert. Der Text lotet anekdotenhaft eigene Erinnerungen und gesellschaftliche Zuschreibungen aus. Wir sind Fan. Viel Spaß beim Lesen!

(1) Willendörfer: (angebliche) Venusfigurinen und Erinnerungen an Großmutter Mütterlicherseits.

Die Venus von Willendorf ist für Österreich von kulturhistorischer, naturwissenschaftlicher und touristischer Bedeutung. Sie wird in einem bedeutenden Museum verwahrt und gepflegt, ggfs. restauriert und ausgestellt.

I.

…die Venus von W. geborgen.

…die Venus von W. geborgen.

100 Jahre später – im Zuge der Ausstellung Vier Millionen Jahre Mensch wurde sie der Öffentlichkeit präsentiert.


Vier Millionen Jahre, Mensch! Göttin Göttin von W. / Göttin im WWW: „Inhalt nicht verfügbar“

#bbw, #nakedgodess, #bigboobs, #petrification

Genre: paläolithische Venusfigurinen

Die Venus von W. wurde vor 30.000 Jahren gezeugt.

Vor 30.000 Jahren herrschte ein raues Klima,

doch es herrschte noch keine Nation.

II.

„An dieser Stelle wurde …“

… 1864 die Venus impudique geborgen.

Sie war die Erste ihrer Art. Der Marquis, der sie barg, nannte sie schamlos – doch viel mehr noch fehlen ihr die Extremitäten. Um ihre Füße hatte sich niemand gekümmert.

Vor ihrer Entdeckung verharrte sie in pre-göttlichem Zustand. Danach wurde ihr der Göttinnenstatus verliehen. Gut für Nationen, wenn sie Göttinnen ihr Eigen nennen können. (2)

Die Venus von W. wurde in Willendorf II geborgen. Das war zur Zeit der Monarchie Österreich-Ungarn – als diese endete, wurde Großmutter geboren. Mütterlicherseits.

(2) Welche Bedeutung die Venus von W. zu ihrer Zeit hatte, steht nach neuesten Erkenntnissen weiterhin in Frage.

III.

An dieser Stelle wurde 1918 Großmutter Mütterlicherseits geboren in Willendorf. Ich nenne es Willendorf I – es gibt nämlich zwei Willendörfer.

Willendorf I ist ein villenloses Dorf. Es gibt steinerne Gärten (wie der vor Großmutters Haus). Willendorf II ist ebenfalls villenlos. Es gibt steinerne Figurinen (wie zb. die Venus von W. – sie war die erste, aber nicht die einzige: des Weiteren barg man in Willendorf II Venus II und Venus III).

verena2.jpg

Jetzt die erste Version der Venus von W. als GIF

Animation auf der Stelle, im 3/4 Takt

die Hüften schwingend.

Venus impudique oder eine Imitation der

tanzenden Venus vom Galgenberg,

auch Fanny genannt – geborgen 1988.


IV.

Der alten, weißen Emaille-Schüssel entstieg Wasserdampf. Großmutter Mütterlicherseits strich mir mit dem Daumen einen Tropfen Kondenswasser vom Kinn, während ich ihr die im Fußbad aufgeweichte Hornhaut von den Fersen rieb. Mein Werkzeug war ein kleiner, schwarzer Bimsstein.

Es duftete intensiv nach Lavendelöl, Minze und Zitrone.

„1, 2, 3“ – hielt ich meine vom Wasser verschrumpelten Fingern dem Herren hin, der mich nach meinem Alter fragte, obwohl er es längst kannte – war er doch regelmäßiger Gast in Großmutters Haus in Willendorf(I) und ließ sich ihr nicht zum ersten Mal – „1, 2, 3“ – zu Füßen nieder und nicht zum ersten Mal überließ ich ihm den Bimsstein, auf dass er mein Werk vollende. (3)

Doch fiel mir bald auf – so gründlich wir, der Herr und ich, auch unsere Arbeit verrichteten, die Hornhaut war beim nächsten Mal wieder nachgewachsen. Sie war härter als zuvor und zog einen größeren Bereich der Fußsohlen in Mitleidenschaft. Besorgt sprach ich Großmutter auf ihre fortschreitende Petrifizierung, von den Füßen her, an.

Da lachte sie, nahm mich amüsiert an den Händen und hieß mich zu ihr ins Fußbad steigen.

Gemeinsam schunkelten wir hin und her und der Herr „1, 2, 3 – 1, 2, 3“ klatschte uns den Takt. Der Babyspeck an meinen Hüften wackelte.

„Impudique!“ rief Großmutter Mütterlicherseits scherzhaft. (4)

(3) Reiben Sie den Stein auf dem Emaille mit gleichmäßigem Druck hin und her. Von Zeit zu Zeit müssen Sie die Richtung wechseln, damit alle Stellen erfasst werden. Wenn Sie zu sehr auf ein und derselben Stelle reiben, wird sie unter Umständen zu dünn. Spülen Sie es oft mit Wasser ab, damit die Emaille- und Karborundumteilchen, die sonst die Oberfläche zerkratzen würden, weggespült werden. Trocknen Sie auch das Werkstück ab und zu ab, um festzustellen, wo noch geschliffen werden muss. Nach einer Weile werden Sie feststellen, dass die Fläche dünner und gleichmäßiger wird. (aus Emaillieren, William Harper, Verlag Hörnemann)

verena3.jpg

Großmutter wäre lieber Tänzerin (4) geworden, als das, was sie geworden ist.

(4) Bei Fanny, tanzende Venus vom Galgenberg könnte es sich, laut neuesten Erkenntnissen, auch um einen Jäger mit Keule handeln.


Verena Dürr ist Autorin, Musikerin und arbeitet als Sozialbetreuerin in einem Notquartier in Wien. Sie ist ein Teil der Literaturpostpunkband „Smashed to Pieces“, vertont solo unter dem Pseudonym „venerasinn“ ihre eigene, sowie ihr nahestehende Lyrik und ist Mitveranstalterin der Literaturreihe „Kein Konzil – Musenküsse!“. 2017 trat sie zum Bachmannpreis-Wettlesen an und 2019 erschien ihr Hörspiel “Herr im Garten” als Produktion des bayrischen Rundfunks.

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Verenas Webseite hier.

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