Endlich mal wieder mit Genuss 'ne Frau anschauen: Ein offener Brief an DIE ZEIT

Endlich mal wieder mit Genuss 'ne Frau anschauen: Ein offener Brief an DIE ZEIT

Liebe Redaktion der ZEIT,

Sie schreiben in Ihrer aktuellen Ausgabe, dass junge Menschen keine Wut mehr haben – das kann ich so nicht unterschreiben, denn ich (als zumindest noch halbwegs junger Mensch) bekam durch die Ausgabe dieser Woche bereits beim schnellen Überfliegen Herzrasen vor Wut.

Die Wut packt mich im Feuilleton: Ich lese dort, dass einer der bekanntesten deutschen Maler sich wünscht, dass ältere Männer die jüngeren männlichen Kunststudenten stärken. Damit sie endlich mal wieder mutig, lustig und „genussfähig” einen Blick auf Frauen werfen.

Was für ein unglaublich unkritisch geführtes und hochpeinliches Interview mit Neo Rauch!

Neben den offensichtlich uralten, abgelutschten, weinerlichen „Argumenten” (dass man heute keinen Spaß mehr haben dürfe und ui, immer muss man sich als Mann so intensiv mit dieser nervigen Sprache auseinandersetzen und auf sooo viele Gemüter Rücksicht nehmen!) und der unkommentiert gelassenen Andeutung, dass Frauen „Minderheiten“ seien, entsetzt mich an diesem Interview, dass die ZEIT es nicht schafft, Herr Rauchs Antworten in den Kontext der aktuellen Diskussion um Sexismus im Alltag der deutschsprachigen Hochschulen zu stellen (siehe das Dossier im Merkur, hier eine Presseschau mit den Reaktionen darauf – in der die ZEIT auffallend wenig präsent ist).

Somit wird dieses Interview zu einem herrlich passenden Beitrag in genau dieser Diskussion.

Allerdings ist es nicht gerade so, dass wir auf noch mehr Beiträge gewartet hätten, die uns beweisen, dass alte Männer im Dienst von Kunst, Freiheit, Spaß (oder welchem hehren Ideal sie im Moment nacheifern), sich öffentlich alles erlauben dürfen. Im Gegenteil! Eigentlich erhoffen wir uns mehr Portraits von Menschen, die einen differenzierten Blick auf unsere Gesellschaft werfen und Interviewer, die nicht hilflos überfordert sind, wenn ein Gespräch solche Bahnen nimmt.

Mit freundlichen Grüßen,
Ricarda Kiel und die Redaktion des wepsert-Blogs

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Nachtrag vom 20. September 2017

Die ZEIT Online hat in der Rubrik Freitext am 19.9. doch noch einen Kommentar zu der Debatte um Sexismus an Hochschulen veröffentlicht – und zwar einen sehr tollen von Paula Fürstenberg.

Sie stellt darin fünf Plädoyers dafür auf, wie diese Debatte geführt werden kann, könnte, sollte, müsste. Hier das fünfte:

Interessieren wir uns für unsere Bevorteilungen. Fassen wir Mut zur Sinnkrise. Begreifen wir uns als Teil eines Ganzen, als Kinder unserer Zeit, als Rädchen im Getriebe. Begreifen wir das Ganze, die Zeit und das Getriebe aber unbedingt als veränderbar, oder zumindest als in Veränderung begriffen.
— Paula Fürstenberg
Irrational

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6D Nami Matsushima

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